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Leben in Armut heisst Stress

Dieser Artikel wurde für die Zeitung Informationen ATD Vierte Welt von ATD Vierte Welt verfasst. Die wissenschaftlichen Fakten zum Thema lieferte die Winterhilfe Schweiz. 

Gemeinsam für die Würde aller

An einer Tagung der Winterhilfe im März 2024 stellte ATD Vierte Welt den Bericht zum Projekt «Armut-Identität-Gesellschaft» AIG vor. Seitdem arbeiten unsere Organisationen punktuell zusammen, um den in Armut lebenden Menschen selbst mehr Gehör zu verschaffen. Aus diesem Anliegen heraus ist auch dieser gemeinsame Artikel entstanden. 

Wenn der Stress kein Ende hat

«Ist es nicht dies, ist es das, ist es nicht das, ist es jenes, immer ist etwas.» Rennen ohne je anzukommen oder zu genügen. Die Blicke überall, man spürt sie, auch wenn man den Kopf längst eingezogen hat. Spätestens heute muss der Beitrag zum Schullager abgegeben werden, ausgerechnet kurz vor Monatsende. Die zu kleine Wohnung bietet nicht Rückzug, sondern Beengung, Lärm ist unvermeidbar, jeder Quadratmeter muss genutzt werden. Hausaufgaben unter schwersten Bedingungen. Die Angst, im Unterricht nicht folgen zu können, negativ aufzufallen, gemobbt zu werden, belastet die ganze Familie. Die Schule wird zu einer ständigen Prüfung, nicht nur für Wissen, sondern auch für das Genügen einer Familie.

«Gesunde, regelmässige Mahlzeiten sind wichtig für die Entwicklung ihres Kindes» - wer wüsste das nicht! Aber was kaum jemand weiss, ist, wie schwierig es ist, solche Mahlzeiten zu gewährleisten: sich so organisieren, dass man am späten Samstagnachmittag herabgesetzte Produkte kaufen kann; sich umhören, ob es irgendwo Sonderangebote gibt, aber wie soll man dorthin kommen ohne Geld für den Bus und ohne Zeit, denn man hat einen Putzjob, der zwar schlecht bezahlt ist, aber doch ein paar Franken zusätzlich bringt. Und bei dem die Einsatzorte nicht so weit auseinander liegen, wie bei der vorherigen Arbeit als Haushaltshilfe, bei der manchmal der halbe Lohn für Verkehrsmittel verlorenging, da man die Strecken zu Fuss nicht schaffen konnte. Und jetzt kochen, obwohl es schon wieder spät ist… Der Hunger wird bei den Eltern oft zum ständigen Begleiter, der Energie nimmt und Gesundheitsprobleme verstärkt. Wie schön wäre ein stabiler Rhythmus, der Kraft schenkt, doch der Körper kämpft mit Müdigkeit und Unwohlsein. Aber deswegen kann man doch nicht zum Arzt gehen – und das Geld dazu fehlt eh. Gegen Schmerzen lieber rasch ein Schmerzmittel nehmen, oder mehrere, wenn es nicht mehr besser wird.

Ständiger sozialer Druck

ENTLASTUNG wäre die beste Hilfe: mit jemandem besprechen, welche Ressourcen ich habe, was wesentlich ist und wie wir dies Schritt für Schritt erreichen können! Hilfsangebote existieren, der Sozialdienst existiert, doch der Weg dorthin ist mit Scham, Formularen und Wartezeiten gepflastert. Einmal dort, fühlt man sich oft wie angeklagt: alles offenlegen, Einkommen, persönliche und familiäre Situation, Wohnsituation, Krankenkasse… Etwas vergessen kann nur Böswilligkeit bedeuten… Obwohl: «Vertrauen geht nicht über Kontrolle, sondern Vertrauen heisst, wir reden auf der gleichen Ebene, ich kann ohne Angst zum Gespräch kommen, ich kann dem Gegenüber in die Augen schauen, ich kann kritisch sein» (AIG-Bericht, ATD Vierte Welt, 2023, S. 24). Die Hilfe kommt als Hilfe zur Selbsthilfe, doch sie bedeutet oft einen weiteren Schritt in Richtung Abhängigkeit. Sozialer Druck ist allgegenwärtig: Andere sehen nur den Mangel, andere urteilen über Chancenlosigkeit und verweigern die erhofften Mittel zur Weiterbildung, Änderung der Wohnsituation... In den schlaflosen Nächten stellt man sich vor, vor Gericht zu gehen. Aber: «Manchmal haben wir keine Rechte. Manchmal haben wir Rechte, aber kennen sie nicht. Manchmal haben wir Rechte und kennen sie, aber fordern sie nicht ein, weil wir Angst haben vor möglichen Konsequenzen, weil wir zu müde oder zu krank sind» (ebd. S. 21).

Fakten zum Thema Stress und Armut

  • Wer arm ist, lebt weniger lang. Jedenfalls, wenn der Wohnsitz in einem Umfeld mit tiefem sozioökonomischem Status liegt. In Bern und Lausanne verlieren Frauen, welche in betroffenen Quartieren leben 2,5 und Männer gar 4,5 Lebensjahre.
  • 8.1 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind von Armut betroffen und 16.1 Prozent von Armut bedroht. Der Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und Gesundheit ist belegt. Wer aus finanziellen Gründen in verschiedenen Bereichen des Lebens (z.B. Wohnen, Freizeit, Anschaffungen) auf vieles verzichten muss, ist sechsmal häufiger von Entmutigung und depressiven Gefühlszuständen betroffen als Personen, die sich nicht einschränken.
  • Oft ist eine Wechselwirkung zu beobachten: Armut stigmatisiert und isoliert, was die Wahrscheinlichkeit für psychische Erkrankungen fördern kann. Und diese bilden wiederum ein grosses Armutsrisiko. Personen, die nur (sehr) knapp über die Runden kommen, leiden deutlich öfter unter Schlafstörungen als Personen, die finanziell besser dastehen.
  • Themen wie wachsende Gesundheits- und Wohnkosten, die einem Grossteil der Schweizer Bevölkerung Sorge bereiten, treffen einkommensschwache Haushalte besonders. So verzichteten zum Beispiel im Jahr 2022 rund 7 Prozent der Bevölkerung in der untersten Einkommensklasse aus Geldnot auf (zahn-)ärztliche Leistungen. Personen mit tiefem Einkommen sind auch am stärksten von einer räumlichen Verdrängung betroffen, wenn Sanierungen, Renovationen oder Ersatzneubauten zu erhöhten Mieten führen.
  • Der Fokus der Ernährung Armutsbetroffener liegt nicht auf den Vorlieben, sondern auf dem, was erschwinglich ist. Denn anders als für die Miete oder Krankenkassenprämie gibt es für Nahrung, keinen fix verplanbaren Betrag. Dieser existiert ebenso wenig für die Freizeitgestaltung oder Ferien: 9 Prozent der Schweizer Haushalte können es sich nicht leisten, für eine Woche in die Ferien zu fahren und so eine Auszeit von stressigem Alltag zu nehmen. 

Die Winterhilfe lindert Armut

Seit 1936 unterstützt die Winterhilfe Menschen in Not in der Schweiz. Sie gibt Betten, Kleider, Einkaufsgutscheine und Schulrucksäcke ab und zahlt dringende Rechnungen, z.B. für Arztkosten. Die Winterhilfe leistet mit ihrer Arbeit einen zentralen Beitrag zur Linderung von Armut. Aktuelle Schwerpunktthemen sind Armut und Gesundheit und Armut und Wohnen. 

Weiterführende Informationen: